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selbstständiger und weiter angelegt, als die bisherigen Competenzconflictsbehörden. Und darum mag auch das Vollziehungsgesez vom 18. April 1869, betreffend »die Organisation', das Verfahren und die Erkenntnissvollstreckung einem so allgemeinen Interesse begegnen, dass eine genauere Mittheilung an dieser Stelle passend ist; es wurde im April 1869 verabschiedet.

Der erste Abschnitt (§. 1-10) handelt von der Organisation, für welche schon das Staatsgrundgesez die oben angegebenen wesentlichen Grundzüge festgestellt hat. §. 3 lautet: »Der Präsident und sein Stellvertreter, sowie die Mitglieder und Ersazmänner des Reichsgerichtes üben ihr Amt als ein Ehrenamt aus. Diejenigen Mitglieder jedoch, welche nicht in Wien ihren bleibenden Wohnsitz haben, beziehen, wenn sie den Sizungen des Reichsgerichtes beiwohnen, während der Dauer der Sizungen ein Taggeld von 10 fl. Die ständigen Referenten, welche das Reichsgericht in erforderlicher Anzahl aus seiner Mitte auf die Dauer von drei Jahren zu wählen hat, erhalten eine jährliche Entschädigung von je 3000 fl. Der Präsident, die ständigen Referenten und die Ersazmänner sind verpflichtet, ihren Wohnsitz in Wien zu nehmen. §. 4. Die Mitglieder des Reichsgerichtes werden vor dem Antritte ihres Amtes auf die unverbrüchliche Beobachtung der Staatsgrundgeseze, sowie aller anderen Geseze und auf die gewissenhafte Erfüllung ihrer Pflichten beeidigt. §. 6. Sind Mitglieder des Reichsgerichtes verhindert, bei den Sizungen zu erscheinen, so haben für die Dauer der Verhinderung an ihre Stelle Ersazmänner, und zwar nach der Reihenfolge ihrer Ernennung einzutreten. Der Stellvertreter des Präsidenten tritt nur bei Verhinderung des letzteren in Thätigkeit. Zur Schöpfung eines giltigen Erkenntnisses ist nebst dem Vorsizenden die Anwesenheit von wenigstens acht Stimmführern des Reichsgerichtes erforderlich. §. 7. Eine Ablehnung des Präsidenten, seines Stellvertreters, eines Mitgliedes oder Ersazmannes des Reichsgerichtes ist nicht zulässig. In Fällen jedoch, in welchen nach den für den Civilprocess bestehenden Gesezen ein Richter ausgeschlossen wäre, hat das betreffende Mitglied des Reichsgerichtes sich der Ausübung seines Amtes zu enthalten. Ueber das Vorhandensein eines Ausschliessungsgrundes entscheidet das Reichsgericht. §. 9. Das Reichsgericht ist ermächtigt, dem Ministerrath das ihm nöthige Kanzlei- und Hilfspersonale zu bezeichnen und dasselbe in Anspruch zu nehmen. §. 10. Das Reichsgericht entwirft sich seine Geschäftsordnung selbst und legt dieselbe durch den Ministerrath dem Kaiser zur Genehmigung vor.<<

Der zweite Abschnitt behandelt das Verfahren vor dem Reichsgerichte und lautet in seinen Hauptparagraphen: »§. 11. Das Reichsgericht hat nur auf Antrag der Betheiligten nach Massgabe der folgenden Bestimmungen in Thätigkeit zu treten. §. 12. Der Antrag auf Entscheidung von Competenzconflicten, welche zwischen

Gerichts- und Verwaltungsbehörden dadurch entstehen, dass beide die Zuständigkeit in derselben Sache in Anspruch nehmen (bejahender Competenzconflict), kann bei dem Reichsgerichte nur von einer Landesverwaltungs- oder einer höheren Administrativbehörde gestellt werden. Andere Verwaltungsbehörden haben zu diesem Behufe den Fall zur weiteren Schlussfassung der zur Antragstellung berechtigten Oberbehörde anzuzeigen. Der Antrag muss den Nachweis enthalten, dass die Verwaltungsbehörde die Zuständigkeit in einer bei dem Gerichte erster oder höherer Instanz anhängigen Sache zu einer Zeit gegenüber dem betreffenden Gerichte in Anspruch genommen habe, in welcher ein Spruch in der Hauptsache noch nicht in Rechtskraft erwachsen war, und kann nur binnen 60 Tagen vom Tage des bei Gericht erhobenen Anspruches bei dem Reichsgerichte eingebracht werden. Der Antrag ist durch die vorgesetzten Ministerien und nur, wenn er von einem Landesausschusse gestellt wird, von diesem unmittelbar dem Reichsgerichte vorzulegen. §. 13. Sobald der Antrag dem Reichsgerichte vorgelegt ist, hat die antragstellende Verwaltungsbehörde unter Nachweisung dieses Umstandes dem Gerichte, bei welchem die Sache anhängig ist, falls aber die Sache bereits rechtsgiltig entschieden wäre, dem Gerichte erster Instanz davon die Anzeige zu machen. Das Gericht ist verpflichtet, über diese Anzeige das weitere Verfahren einzustellen und die betheiligten Parteien davon in Kenntniss zu sezen. Die Execution kann bis zur Entscheidung des Competenzconflictes weder bewilligt noch fortgesetzt, auf Grund eines schon vor Erhebung des Competenzconflictes ergangenen Urtheiles aber bis zur Sicherstellung oder gegen Sicherheitsleistung zugelassen werden. Die Erlassung von provisorischen Verfügungen, sowie die Beweisaufnahme zum ewigen Gedächtnisse, soweit dieselben nach den Civilprocessgesezen zulässig sind, wird dadurch nicht gehindert. §. 14. Der Antrag auf Entscheidung von Competenzconflicten, welche dadurch entstehen, dass sowohl die Gerichts- als auch die Verwaltungsbehörden die Zuständigkeit in derselben Sache ablehnen (verneinender Competenzconflict), kann nur von der betheiligten Partei gestellt werden. Die Partei hat ihr mit den Gründen und den nöthigen Belegen versehenes Gesuch, welches von einem Advocaten unterfertigt sein muss, unmittelbar beim Reichsgerichte einzubringen. §. 15. Entsteht ein Competenzconflict zwischen einer Landesvertretung (Landesausschuss) und den obersten Regierungsbehörden dadurch, dass jede derselben das Verfügungs- oder Entscheidungsrecht in einer administrativen Angelegenheit beansprucht, so ist jede dieser Behörden berechtigt, den Antrag auf Entscheidung des Conflictes beim Reichsgerichte einzubringen. BeConflicten zwischen den autonomen Landesorganen verschiedener Länder in den ihrer Besorgung und Verwaltung zugewiesenen Angelegenheiten steht dieses Recht den Landesvertretungen (Landesausschüssen) zu. In

diesem Gesuche sind das Thatsächliche des Falles und die Gründe, welche für die Competenz geltend gemacht werden, genau anzuführen. §. 16. Um die Entscheidung des Reichsgerichtes über einen zur Austragung im ordentlichen Rechtswege nicht geeigneten Anspruch an eines der im Reichsrathe vertretenen Königreiche oder Länder oder an die Gesammtheit derselben zu erwirken, hat die Person, Körperschaft, Gemeinde, das Land oder die Gesammtheit der Länder, welche den Antrag auf Entscheidung beim Reichsgerichte einbringt, in ihrem Gesuche die dem Anspruche zu Grunde liegenden Thatsachen und Verhältnisse und die zur Begründung des Anspruches vorhandenen Beweismittel anzuführen uud die nöthigen Behelfe anzuschliessen. Das Gesuch ist gegen den Landesausschuss des in Anspruch genommenen Königreiches oder Landes, wenn aber der Anspruch gegen die Gesammtheit dieser Königreiche und Länder erhoben wird, gegen die Regierung zu richten, und wenn es von einzelnen Personen ausgeht, mit der Unterschrift eines Advocaten zu versehen. §. 17. Handelt es sich um die Entscheidung über die Beschwerde eines Staatsbürgers wegen Verlezung der ihm nach der Verfassung zustehenden politischen Rechte, so hat die in ihren politischen Rechten verletzte Partei ihrem gehörig begründeten Gesuche die von ihr erwirkte Entscheidung der zuständigen Administrativbehörde anzuschliessen. Das Gesuch muss die bestimmte Bezeichnung der Person, Körperschaft oder Behörde, welcher die Verlezung zur Last gelegt wird, sowie den Nachweis, dass die Angelegenheit im gesezlich vorgeschriebenen administrativen Wege ausgetragen worden ist, enthalten und längstens 14 Tage nach Zustellung der in letzter Instanz ergangenen administrativen Entscheidung eingebracht werden. §. 18. Die in den §§. 12 und 17 festgesetzten Fristen sind unerstreckbar. Eine Wiedereinsezung wegen Versäumung einer dieser Fristen findet nicht statt. §. 20. Ueber die Vorfrage, ob ein Antrag wegen Incompetenz des Reichsgerichtes, wegen Versäumung der gesezlichen Frist, oder wegen Abganges der formellen gesezlichen Erfordernisse als zur Verhandlung nicht geeignet zurückzuweisen sei, entscheidet das Reichsgericht in nicht öffentlicher Sizung. §. 21. Erscheint zur Vorbereitung der Verhandlung die Vernehmung von Betheiligten, Zeugen oder Sachverständigen, die Herbeischaffung von Urkunden oder anderen Behelfen erforderlich, so hat sich der Referent wegen Vornahme und Einsendung dieser Erhebungen im Correspondenzwege an die zuständigen Behörden zu wenden. §. 22. Der Präsident des Reichsgerichtes bestimmt zur Verhandlung Tag und Stunde und setzt die Betheiligten, sowie die betreffenden Ministerien davon in Kenntniss. §. 23. Die Verhandlungen vor dem Reichsgerichte sind mündlich und öffentlich. Die Oeffentlichkeit kann aus Gründen der Sittlichkeit und öffentlichen Ordnung durch Beschluss des Gerichtes ausgeschlossen werden. In einem solchen Falle hat jeder Betheiligte

das Recht, zu verlangen, dass drei Personen seines Vertrauens der Zutritt gestattet werde. §. 24. Den Betheiligten steht es frei, sich in der mündlichen Verhandlung selbst zu vertreten oder durch Advocaten vertreten zu lassen. Behörden, Körperschaften und Gemeinden üben das Selbstvertretungsrecht durch aus ihrer Mitte abgeordnete Bevollmächtigte aus. §. 25. Zur Wahrnehmung der Interessen ihres Verwaltungszweiges können die betreffenden Ministerien zu den Verhandlungen des Reichsgerichtes einen Vertreter abordnen. Derselbe ist befugt, das Wort zu begehren, um nähere Aufklärungen zu geben, kann aber auch von dem Reichsgerichte hierzu aufgefordert werden. §. 28. Sobald die Sache hinlänglich erörtert ist (§. 26, 27), wird die Verhandlung geschlossen und zur Schöpfung des Erkenntnisses geschritten. Die Berathung und Abstimmung ist nicht öffentlich. Das Reichsgericht ist bei Schöpfung des Erkenntnisses an keine Beweisregeln gebunden; es entscheidet nach seiner freien, aus der Würdigung aller in der Verhandlung erörterten Thatsachen und Verhältnisse gewonnenen Ueberzeugung. §. 29. Die Erkenntnisse des Reichsgerichtes werden mit absoluter Stimmenmehrheit geschöpft. Der Vorsizende gibt nur dann, wenn die Stimmen gleichgetheilt sind, seine Stimme ab; die Meinung, der er beitritt, wird dadurch zum Beschlusse erhoben. §. 30. Das Reichsgericht ist wie jedes andere Gericht berufen, die Giltigkeit von Verordnungen zu prüfen und darüber zu entscheiden; die Prüfung der Giltigkeit gehörig kundgemachter Geseze steht aber auch ihm nicht zu. §. 31. Das Erkenntniss ist mit den wesentlichen Entscheidungsgründen in derselben, falls diess aber nicht thunlich wäre, mit den vollständigen Entscheidungsgründen in einer anderen, sofort dem Betheiligten bekanntzugebenden öffentlichen Sizung des Reichsgerichtes mündlich zu verkündigen. Mit der Verkündigung des Erkenntnisses muss vorgegangen werden, wenn auch die Betheiligten sich entfernt haben oder von der hiezu bestimmten Sizung ausgeblieben sind. §. 33. Bei Competenzconflicten im Sinne des Artikels 2 des Staatsgrundgesezes über die Einsezung eines Reichsgerichtes hat das Erkenntniss, ohne das Innere der Sache zu berühren, sich lediglich auf die Entscheidung der Competenzfrage zu beschränken. §. 34. Bei der Entscheidung über streitige Ansprüche öffentlichen Rechtes im Sinne des Artikels 3, lit. a) desselben Staatsgrundgesezes ist in dem Erkenntnisse auszusprechen, ob dem gestellten Begehren und in welchem Umfange stattgegeben werde und binnen welcher Zeit eine auferlegte Verbindlichkeit zu erfüllen ist. Das Erkenntniss hat sich auch auf den angesprochenen Ersaz der Kosten zu erstrecken. §. 35. Bei der Entscheidung von Beschwerden über Verlezung politischer Rechte im Sinne des Artikels 3, lit. b) desselben Staatsgrundgesezes hat das Erkenntniss auszusprechen, ob und in welchem Umfange in dem zur

Entscheidung vorliegenden Falle die behauptete Verlezung eines politischen Rechtes des Beschwerdeführers stattgefunden habe.

Der dritte Abschnitt handelt von der Vollziehung der Erkenntnisse des Reichsgerichtes. Die §§. 39-40 lauten: §. 39. Wegen des Vollzuges der Erkenntnisse des Reichsgerichtes, soferne sie einem solchen unterliegen, haben sich die Betheiligten an die zuständigen Gerichts- und Verwaltungsbehörden zu wenden. §. 40. Hält der Betheiligte während der Anhängigkeit eines Competenzconflictes oder einer streitigen Angelegenheit öffentlichen Rechtes bei dem Reichsgerichte eine mittlerweilige Vorkehrung oder Sicherstellung für nöthig, so kann die Bewilligung und Vornahme derselben nur bei der zuständigen Gerichts- oder Verwaltungsbehörde nach den darüber bestehenden Gesezen begehrt werden. §. 41. Die Anhängigkeit einer Sache bei dem Reichsgerichte hat in dem Falle, wenn darüber bereits von einer öffentlichen Behörde entschieden und die Durchführung der Entscheidung verfügt worden ist, unbeschadet der Bestimmungen des §. 13 nur dann aufschiebende Wirkung, wenn nach dem Ausspruche dieser Behörde mit dem Vollzuge der Entscheidung für den Betheiligten ein unwiederbringlicher Nachtheil verbunden wäre.

Die französische Gesezgebung April 1867 bis Ende Dez. 1868. (Nach Duvergier's Gesezessammlung.) 1)

I. Justiz- und Privatrechtsgeseze.

Unter den Justiz gesezen, deren wir nur kurze Erwähnung in dieser Zeitschrift zu thun haben, ist zu nennen:

1) Das Gesez vom 29. Juni 1867, welches die Artikel 443–447 des côde d'instruction criminelle aufhebt und durch neue ersezt. Der Zweck dieser Strafprocessnovelle geht dahin, den Rigorismus der res judicata in einzelnen Fällen nachträglich erwiesener Unschuld der Verurtheilten zu brechen. Das Gesez nennt drei Fälle, wo der Revisionsprocess vom Justizminister oder vom Verurtheilten oder von Erben und Verwandten oder Beauftragten des lezteren veranlasst werden kann.

2) Ein umfassendes Gesez vom 22. Juli 1867 mildert und begrenzt die Schuldhaft.

3) Sehr bedeutsam auch für den Nationalökonomen ist das neue zusammenfassende Gesez über Gesellschaften, welches wir vollständig, unter Beifügung erläuternder Zusäze, abdrucken zu sollen glauben. Es datirt vom 24. Juli 1867 und heisst im französischen Text loi sur les sociétés.

Schon formell ist die Bedeutung dieses Gesezes gross; denn es

1) Lezte Uebersicht s. 24. Jahrgang, 1. Heft.

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